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Peter Lodermeyer
Der Möglichkeitsüberschuss der Bilder,
Vorwort zum Katalog Tagundnachtgleiche,
Revolver Verlag, Berlin 2013

I.
Hamlet
Seht Ihr die Wolke dort, beinah in Gestalt eines Kamels?
Polonius
Beim Himmel, sie sieht auch wirklich aus wie ein Kamel.

Hamlet
Mich dünkt, sie sieht aus wie ein Wiesel.

Polonius
Sie hat einen Rücken wie ein Wiesel.

Hamlet
Oder wie ein Walfisch?

Polonius
Ganz wie ein Walfisch. 1

Über die Arbeiten von Alexander Johannes Kraut lässt sich kaum im Ton des Bescheidwissens schreiben. Ihre besondere Erscheinungsweise lässt sich eher aus einer Haltung des entdeckenden Staunens heraus umreißen, wie sie jemand einnimmt, der wie Hamlet den sich permanent wandelnden Wolken zusieht. Für die Beschreibung der nicht weniger veränderlichen Bilder Krauts gibt es keinen privilegierten Standpunkt, von dem aus man definieren könnte, was sie an sich sind. Übrigens auch nicht für den Künstler selbst, der sich ebenfalls vor seine Arbeiten stellen und sich im Sehen von ihnen überraschen und zu wechselnden Einsichten leiten lassen muss.

Interessant an Shakespeares kleiner Szene ist die Zustimmung des Polonius zu dem, was Hamlet sieht, sobald dieser es benennt (sofern er ihm nicht einfach nach dem Munde redet). Das ist das Erstaunliche an den sich ständig wandelnden Formen, dass sie, sobald sie einmal sprachlich benannt und damit – wenigstens für einen Moment – fixiert sind, auch für den anderen sichtbar werden können. Wer einmal das Glück und das Vergnügen hatte, mit A. J. Kraut in seinem Atelier über seine Bilder zu sprechen, weiß, dass dasselbe auch für sie gilt, wenn auch nicht immer so glatt und widerspruchslos wie im Falle des Polonius, sondern oft erst nach ausführlichem Zeigen und Beschreiben. Den Vorgang des Hinein-Sehens oder Ein-Sehens von Formen in ein amorphes visuelles Feld nennt der südafrikanische Künstler William Kentridge „finding a shape through activity“.2
Welche Aktivität? Es ist die des Auges und der produktiven Einbildungskraft des Betrachters für welche das jeweilige Bild den Stoff liefert. Die Philosophin Eva Schürmann umschreibt sie als ein „semantisches Sehen von etwas Amorphem als etwas Figürliches“ 3 und spricht mit einer geglückten Wendung vom „unsichtbare[n] Möglichkeitsüberschuss des Sichtbaren“.4


I.
Eine Eigenschaft unterscheidet Krauts Zeichnungen, Drucke und Fotografien freilich grundlegend von Shakespeares Wolkenformen (und ebenso von den Arbeiten William Kentridges): Während die Wolken sich in ständiger Bewegung befinden (und Kentridges Zeichnungen dafür da sind, laufend überarbeitet und in filmische Bewegung umgesetzt zu werden), sind Krauts Bilder statisch, zumindest im materiellen Sinne. Ihre Veränderungen geschehen in der Anschauung, angetrieben von der körperlichen Bewegung und der imaginativen Beweglichkeit der Betrachter. Es genügt ein Wechsel der Betrachterposition, eine leichte Veränderung der Lichtverhältnisse, ja schon ein bloßes Abwarten im beharrlichen Schauen, damit sich die Details des Bildes neu ordnen und die Figur-Grund-Beziehungen verschieben. Der „unsichtbare Möglichkeitsüberschuss“ ist so groß, dass die Bilder sich nicht nur immer neu und anders darstellen, sondern auch über ihre Gattungsgrenzen hinauszudrängen scheinen: die Zeichnung ins Fotografische, der Linoldruck in die Malerei, die Fotografie in die Erzählung hinein, usw.


II.
Für Alexander Johannes Kraut heißt Zeichnen, im physischen Kontakt mit der Welt zu stehen. Das ist weit mehr als eine poetische Metapher. Denn der Akt des Zeichnens ist in der Tat welthaltig, zumindest, wenn man ihn wie Kraut als eine existenzielle Notwendigkeit versteht, sich ein Bild, nein: viele Bilder vom In-der-Welt-Sein zu machen. Das Ziehen von Linien, das Erzeugen und Verwischen von Spuren und Flecken, das Um- und Ausgrenzen von Flächen kann vieles sein und verschiedeneszugleich: Protokoll von Seheindrücken, emotionales Erregungsdiagramm, körperliche Bewegungsspur, abstrakte Niederschrift von Gedanken, vor allem aber tastende Annäherung an die Außenwelt. Die Zeichnung ist für Kraut ein Medium des Weltverstehens. In ihr wird nicht nur Gesehenes und Erlebtes verarbeitet, wieder neu gesehen und in unerwartete Verbindungen gebracht, vor allem wird überhaupt so etwas wie Sichtbarkeit hergestellt. Der Künstler hat dies pointiert zum Ausdruck gebracht, indem er erklärte: „Ich zeichne nicht, was ich sehe – ich sehe, was ich zeichne.“ 5 Im Zeichnen werden aus der körperlichen Bewegung der Hand heraus, die als Greif- und Begreiforgan ein primäres Werkzeug des Denkens und damit der Weltorientierung ist, Erfahrungen in eine visuelle Form übersetzt. Zeichnung im Sinne Krauts ist Erkenntnisinstrument, nicht bloß technisches Mittel zu dem Zweck, Bilder zu generieren.

Die frühesten Blätter, die im vorliegenden Katalog zu sehen sind, allesamt Bleistiftzeichnungen, stammen aus den Jahren 1993 bis 1997, noch aus der Zeit des Studiums an der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart. Schon hier wird deutlich, dass es dem Künstler nie darum ging, Zeichnung als eine elegante, virtuose „Griffelkunst“ zu betreiben, sondern ihr etwas Rohes, Direktes, einen unmittelbaren Wirklichkeitsbezug zu belassen. Die zahlreichen Radierspuren und das einmontierte Papier in 15. Dezember 1993 geben die Zeichnung als das Ergebnis eines langen, intuitiven, physischen Arbeitsprozesses zu erkennen. Bemerkenswert ist, wie früh bereits Strukturelemente und Motive aufscheinen, die erst viel später zu voller Entfaltung kommen. So nimmt die leichte, ornamental bewegte und ganz aus Linienschwüngen und Punkten bestehende Zeichnung 19.10.1993 bereits das Motiv des Wassers vorweg, das später immer wieder in Krauts Bildwelt, z. B. in den Drei Wasserzeichnungen von 2012, auftauchen wird. Das Blatt ist auch auf der Rückseite bearbeitet und kann von beiden Seiten betrachtet werden. Diese Mehransichtigkeit kehrt ebenfalls wieder, jedoch in der Form, dass einige Arbeiten, z.B. Vogel von 2003, 13. August 2004 und 21. August 2004, um 180 Grad gedreht werden können, weil beide Ansichten gleichermaßen funktionieren. Beim Drehen des Blattes kann man anschaulich nachvollziehen, wie sich „dasselbe“ visuelle Material in einem Augenblick komplett neu ordnet und in eine unerwartet andere Gestalt umspringt. Das Durchscheinen der Rückseite in dem frühen Blatt von 1993 erzeugt die visuelle Überlagerung zweier Ebenen, ein Strukturmerkmal, das mit ganz anderen Mitteln im mehrschichtigen Spiel von Körper, Schatten und Reflexion in den Fotografien wiederkehrt.

Die Arbeit 15. Mai 1996 bringt erstmals das später so wichtige Motiv des dichten Linien-Feldes zum Vorschein, dessen Details im Spiel von Hell-Dunkel-Werten bei näherer Betrachtung immer weitere Assoziationsmöglichkeiten offenbaren. Während eine zaunartige Struktur auf eine Wiesenlandschaft hindeutet, lässt das Boot rechts unten an eine Wasserfläche mit Spiegelungen denken. Es gehört zu den Überraschungen dieses Blattes, dass sich die „Lichtreflexe“, nichts anderes als die Leerstellen des weißen Papiers zwischen den dichten Bleistiftschraffuren, plötzlich zu einem Reigen phantomartiger, stark abstrahierter menschlicher Figuren und Zeichen fügen, die ein wenig an prähistorische Steinzeichnungen erinnern, wie man sie u. a. in Schweden oder in Afrika findet.

Auf einer enigmatischen Zeichnung von 1997 erkennt man eine stehende, bekleidete Frauenfigur inmitten eines Waldes aus Baumsilhouetten. Pfeil und Bogen haben sich von ihr losgelöst und erscheinen selbsttätig links vor ihr. Zunächst unzufrieden mit dieser Jagdgöttin Artemis, zerriss Alexander Johannes Kraut die Zeichnung, fügte sie aber später wieder zusammen. Der senkrechte Riss, der das Blatt nun zugleich durchtrennt und zusammenhält, wird so zu einem formalen Bestandteil der Arbeit. In den jähen Zweiteilungen jüngerer Arbeiten, z. B. im Entwurf für eine Reise von 2007, scheint er verändert wiederzukehren.

Zweifellos autobiographisch motiviert sind die Vier Brüder von 1994, offenbar Rückenfiguren zeigend, die mit einer mechanischen Konstruktion beschäftigt zu sein scheinen, die an ein großes Modellflugzeug erinnert. Tatsächlich ist Kraut zusammen mit drei Brüdern aufgewachsen, allesamt Automechaniker und Schreiner im Allgäu. Kein Zweifel, dass die rechte, sich leicht zur Seite wendende, die geschlossene Phalanx verlassende Figur ohne klaren Stand den Künstler darstellt, der übrigens selbst eine Lehre als Kfz-Mechaniker absolvierte, bevor er sich der Kunst zuwandte. Mit dem Gracchus im Februar von 1997, der mit seinem Titel auf Franz Kafkas Erzählung von dem untoten, auf seiner Barke zwischen Diesseits und Jenseits treibenden Jäger Gracchus anspielt, kommen deutlich spätere Stilelemente zum Tragen: dichte, mit Zimmermannsbleistift gezogene Liniengefüge und die Bevorzugung vibrierender Flächen gegenüber der linearen Definition distinkter Formen. Dass die Staatliche Graphische Sammlung München das Blatt angekauft hat, unterstreicht seinen hohen Stellenwert im Werk von A. J. Kraut. (Eine wichtige Anmerkung am Rande: Ob Artemis, Gracchus oder Tagundnachtgleiche, die Titel von Krauts Arbeiten sind immer nachträgliche Annäherungen des Künstlers an seine eigene Arbeit, oft aus großem zeitlichem Abstand formuliert und manchmal auch ersetzbar. Man sollte sie keinesfalls als verbindliche Sinnfestschreibungen missverstehen.)

Die menschliche Figur als ein bewusst gestaltetes Motiv verschwand nach und nach aus Krauts Bilderwelt und machte bald den schemenhaften Figuren Platz, die sich eher in die Arbeiten hineinsehen lassen als dass sie dort wirklich identifizierbar wären. Ein letztes Mal tauchen definierte Figuren als Zitat auf. Nachdem Kraut 1999 im New Yorker Drawing Center ein Buch erworben hatte, in dem einige Arbeiten des jung verstorbenen Arapaho-Indianers Frank Henderson (1862–1885) abgebildet sind, beschäftigte er sich über Jahre mit dessen Zeichnungen6. Seine Identifikation mit diesen Arbeiten und ihrem Autor ging so weit, dass er eine davon, Two Men Ride to War von 1882, regelrecht auswendig lernte und über einen längeren Zeitraum hinweg beinahe Tag für Tag wiederholte. Sie taucht auch im unteren Register des Blattes Frank Henderson und A. J. Kraut von 2001 auf. Sie wird kontrastiert von einer Helldunkel-Fläche, die aus dicht gefügten horizontalen Strichen unterschiedlicher Stärke besteht und den Reiterfiguren eine Art Landschaftsraum bietet, in den sie sich in ihrer Linearität jedoch nicht wirklich einfügen: Zusammenspiel und zugleich Unvereinbarkeit zweier höchst unterschiedlicher zeichnerischer Stile zumal. Im Blatt Frank Henderson im Allgäu von 2003 , das übrigens einer kleinen Erzählung gleichen Titels von 2005 präludiert, kehrt das Reitermotiv klein und kaum sichtbar hinter Baumstämmen auf einer Waldlichtung auf. Krauts tagträumerische Identifikation mit Henderson, so darf man vermuten, hat sicher mit der Direktheit, der von keinem Kunstanspruch berührten Unmittelbarkeit, der – im besten Sinne – Naivität des Zeichenstils des jungen Mannes und mit seiner bodenständigen, naturnahen Haltung zu tun, wie sie aus unserer heutigen globalisierten Kunstwelt ganz verschwunden zu sein scheint.


III.
Auf zwei stilllebenhaften Fotos sind die typischen Zeicheninstrumente von Alexander Johannes Kraut zu sehen: zum einen kantige, mit dem Messer grob zurechtgeschnittene, ungespitzte Beistifte und ein Häuflein Sand; zum anderen Zeichenstöcke, d.h. Metall- bzw. Holzstäbe, denen Kerben und Riffeln eingeschnitten sind. An diesen Stöcken entlang zieht der Künstler mit großer Geschwindigkeit seinen Bleistift, so dass ein vibrierendes Feld aus porösen, oszillierenden Linien entsteht. Die Zeichnung 26. Juli 2012 zeigt links oben einen vertikalen „Regen“ solcher Linien. Dort kann man auch sehr gut die gebogenen Anschlagslinien erkennen, die sich abzeichnen, bevor der Bleistift den Zeichenstock berührt. Der Sand ist ein weiteres wichtiges Utensil für den Zeichenprozess. Seit Jahren hat es sich A. J. Kraut zur Gewohnheit gemacht, die Zeichenfläche mit diesem extrem feinkörnigen Saharasand (ein winziges Stück Wüste auf dem weißen Papier) zu bestreuen, bevor er mit kreisenden und schlingernden Bewegungen zu zeichnen beginnt. Der Sand setzt den Bewegungen der Bleistiftmine eine zarte Reibung entgegen und verhindert so, dass sich der Zeichenvorgang motorisch vollständig kontrollieren lässt. Ein weiterer wichtiger Grund für die Benutzung der Stöcke und des Sandes besteht in der Absicht, beim Zeichnen etwas Materielles soweit als möglich an das offene, eigenschaftslose Blatt Papier heranzuführen, dem Zeichenvorgang somit etwas konkret Wirkliches und Widerständiges hinzuzufügen.

Einen weiteren, in diesem Fall visuellen Widerstand in seinen Bleistiftzeichnungen schuf sich Kraut dadurch, dass er zeitweise Pigmente verwandte. Dabei ging es nicht um Farbe als solche, sondern um konkrete, meist erdfarbene Einsprengsel ins Liniengefüge, manchmal nur wenige Flecken von wertvollem Lapislazuli, manchmal über das Blatt geriebene breite Bahnen aus wertlosem Ziegelstaub, den er durch Abschleifen von Ziegelsteinen gewann. Auch so aparte Färbemittel wie Kuhdung oder Pflanzensaft fanden Verwendung.

Einen auffälligen Wandel der Bildgestalt bringt die Serie Sandbuch von 2009 mit sich, die im Titel auf das bereits erwähnte Verfahren anspielt, das Papier zum Zeichnen mit Sand zu bestreuen. In diesen Arbeiten nimmt das Bildfeld nicht mehr die ganze Blattgröße ein, sondern beschränkt sich auf Ausschnitte unterschiedlicher Größe, die dicht mit meist kreiselnden Bleistiftschraffuren gefüllt werden. Die Idee dabei war, das Bild gleichsam als eine Art Bildschirm wie die eines Laptops oder Tablet Computers aufzufassen, wie er ja mittlerweile zum Standardfall von Bildlichkeit geworden ist.

Beim Anschauen dieser Blätter kann man sich vergewissern, dass genaues und geduldiges Sehen selbst produktiv ist und keineswegs nur ein passives Registrieren dessen, was dem Auge vorgesetzt wird. Es gelingt ihnen in erstaunlichem Maße, das Assoziationsvermögen der Betrachter zu aktivieren und in eine schöpferische Unruhe zu versetzen. Dabei bewegen sie sich immer haarscharf an der Grenze, die zwischen Figuration und Gegenstandslosigkeit verläuft. Oder besser gesagt, diese Grenze wird als solche erfahrbar – und zwar als eine nach beiden Seiten hin durchlässige, als eine vibrierende, mit Unschärfen versehene Linie. Alle Bildelemente können sich für das aktive Auge immerzu in etwas anderes verwandeln, im Sehen ereignet sich ein proteïsches Spiel der Linien und Formen. Mit Heraklit gesprochen: Man steigt nicht zweimal in denselben Bilderfluss, den Krauts Blätter, jedes für sich, zum Strömen bringen. Bei jedem neuen Anschauen kann es passieren, dass sich die Formen, Linien, Flächen unversehens und unerwartet neu konfigurieren, dass beispielsweise Figuren, die eben noch zu erkennen waren, mit einem Mal verschwunden sind, oder dass Ruinen oder Bäume auftauchen, wo zuvor noch reine Linienwildnis wucherte.

Mit den Sepiazeichnungen, einer Reihe von etwa 40 Arbeiten, die Kraut 2013 in Lissabon in einem Atelier in der Rua dos Fanqueiros gefertigt hat, wird erstmals der Bleistift als Zeichenmittel abgelöst. Teils mit den Fingern, meist mit dem trockenen Pinsel sind Tupfen und Flecken – ferne Nachfahren der blots des Alexander Cozens7– dieses aus dem Tintenbeutel der Tintenfische stammenden Farbstoffs so aufgetragen, dass sich in ihren Hell-Dunkel-Rhythmus vage Andeutungen von Tiefenräumlichkeit, proto-figurative Settings hineinlesen lassen. „Sepia ist eine sehr merkwürdige Farbe, in viele Richtungen changierend. Ich dachte mir, ob der Künstler ganz allgemein verwandt ist mit dem Tintenfisch, indem er ein Bild ins Wasser malt, das den Betrachter ablenkt, damit er fliehen kann?“.8


IV.
Alexander Johannes Kraut wendet auf seine Zeichnungen gerne versuchsweise die Bezeichnung „Gedankenfotografie“ an. Dazu muss vorweg gesagt werden, dass damit nicht das bekannte technische Verfahren gemeint ist, sondern Fotografie im Wortsinne von „mit Licht schreiben“. Man kann übrigens nicht mit Licht schreiben, ohne zugleich mit oder in der Dunkelheit zu schreiben. In umgekehrter Entsprechung brauchen die schwarzen Linien der Schrift wie der Zeichnung als Fond das Weiß des Papiers. Wobei „Schreiben“ nicht nur metaphorisch gemeint ist, denn der Duktus der Linien (besonders in einigen der großformatigen Linoldrucke) weist sehr oft einen – freilich abstrakten – Schriftcharakter auf. In Krauts Zeichnungen wird immer wieder der Punkt anvisiert, an dem die Linie zwischen Schrift und Zeichnen oszilliert. „Linien sind freier als Buchstaben, vor der Geburt ist der Buchstabe nur Linie“.9 Nicht zufällig bedeuten das griechische graphein (γράφειν) wie das lateinische scribere zugleich schreiben und zeichnen.

Wie hätte man sich, wenn es so etwas gäbe, eine Gedanken-Fotografie vorzustellen, und wie die inneren Landschaften, die sich in unserem Denken, beim Vorstellen, Erinnern und Tagträumen einstellen?

(Lassen wir für den Moment einmal beiseite, dass der schöne Ausdruck Gedankenfotografie längst für obskure paranormale Phänomene wie die angebliche Belichtung von Fotopapier durch reine Gedankenkraft verschwendet wurde.10 Es ist ungemein aufschlussreich, sich die Blätter von Alexander Johannes Kraut aus der Perspektive dieser Frage anzuschauen, denn sie vermögen es, Bilder aus den Tiefenschichten des Bewusstseins heraufzuholen. Dabei sind sie wie das Foto im Entwicklerbad aus einem langen, von kontrollierenden und planenden Gedanken möglichst befreiten intuitiven Zeichenvorgang ‚entwickelt’ worden. Bei längerer Betrachtung werden seine Arbeiten immer mehr von solchen inneren Bildern überlagert, dabei stellen sich subjektive Zustände wie beim Erinnern von Träumen oder lange zurückliegenden Erlebnissen ein. Eine Zeichnung wie 15. November 1999 macht dies deutlich. Die Bildanlage ist denkbar einfach: von links nach rechts wechseln einander drei Zonen unterschiedlicher Helligkeit ab, zunächst ein Bereich fast schwarzer Graphitspuren, dann eine Zone mittlerer Graustufen mit leichten Binnenstrukturen, danach das weiße Papier. Zwei annähernd vertikale dunkle Linien im mittleren Bereich genügen völlig, um dem an sich ganz flächigen Bild eine suggestive Raumtiefe zu verleihen. Aus einigem Abstand betrachtet, entwickelt das Blatt eine geradezu fotografische Anmutung, wie ein Blick von oben auf einen Küstenstreifen oder eine teilweise von Sandverwehungen bedeckte Straße. Tritt man ganz nahe heran, verschwindet beides, Landschaftsassoziation und Fotoqualität, in der Materialität von Graphit und Papier.

Alexander Johannes Kraut ist kein Fotograf, dennoch greift er immer wieder zur Kamera, um Bilder festzuhalten, die sich im Medium der Zeichnung oder des Linoldrucks nicht vermitteln lassen. Licht und Schatten und ihre irritierenden Spiele sind dabei die wichtigsten Motive. Geradezu überkomplex trotz des so leicht durchschaubaren Settings erscheint das Selbstporträt als Spiegelung im Wasser, das Kraut 2007 während eines Aufenthalts in der renommierten Künstlerresidenz Yaddo in Saratoga Springs, New York, von einem Baum herab aufnahm. Der Körper ist bloße Reflexion, ein Schatten, der die hell glänzende Wasseroberfläche optisch durchbricht. Paradoxerweise erscheint die mit dem Baum verschmelzende Figur transparent und lässt einen Blick auf die Wasserpflanzen am Teichboden zu. Ein geheimnisvolles, weiß funkelndes Dreieck in Hüfthöhe macht das Bild vollends zum Rätsel. Ein schönes Pendant zu diesem Selbstporträt als Reflexion ist das Bild, das er 2013 auf der kapverdischen Vulkaninsel Fogo aufgenommen hat. Der Künstler steht unsichtbar am Rand einer Kratersenke und wirft einen Schatten weit in die Raumtiefe hinein, sodass er sich, als winzige schwarze Silhouette, als kleiner Fortsatz an der gewaltigen gebogenen Schattenlinie des Berges, selbst gegenübersteht.

Zu den erstaunlichsten Fotofunden Krauts auf Fogo gehören die skulptural anmutenden Gesichter von zum Teil ausdrucksstarker physiognomischer Deutlichkeit, die er offenbar in größerer Zahl auf den in der kargen Landschaft herumliegenden Steinen entdeckte. Es sind Sekunden- oder Minutenskulpturen, denn die Sonne muss nur ein wenig weiterwandern und schon verändert sich der Schattenwurf so sehr, dass jede Andeutung von Gesichtlichkeit11 verschwindet. Dass die Zufallsverteilung von Licht und Schatten selbst auf einer banalen, zerdrückten Plastikflasche die strengen Züge einer romanischen Heiligenfigur hervorbringen kann, ist die größte Überraschung dieser Fotoserie. (Ich empfinde es als ungemein wohltuend, dass es mir nicht bei allen hier gezeigten Fotos aus Fogo gelingt, festzustellen, warum Kraut sie aufgenommen hat, was er in die Steine hineingesehen hat. Sehen ist ein subjektiver Vorgang, und wenn zwei Menschen dasselbe Bild anschauen, ist es eben nicht dasselbe).
Eine kurze Bemerkung zu den Fotos ist, im gegenwärtigen Zeitalter der Digitalisierung der Fotografie, vielleicht nicht ganz so überflüssig, wie sie mir beim Niederschreiben eigentlich erscheint: Selbstverständlich ist den Gesichtern aus Fogo nicht mit Photoshop nachgeholfen worden, das würde ihre Existenz sinnlos machen. Ebenso wenig ist die phantomhafte Präsenz des Künstlers vor seinem großen Linoldruck Tagundnachtgleiche II von 2008, bei der sich sein Körper nur teilweise materialisiert zu haben scheint, auf digitale Bearbeitung zurückzuführen. Diese Langzeitbelichtung von Viktoria Kirjuchina verdankt sich einem technischen Defekt, es ist eines der Bilder aus Versehen, wie sie Peter Geimer in seiner lesenswerten Studie beschrieben hat.12

In einem Nebensatz seiner Traumdeutung lässt Sigmund Freud ganz beiläufig die Bemerkung fallen, dass Buchstaben „ja in freier Natur nicht vorkommen“.13 Es scheint, dass Alexander Johannes Kraut es darauf anlegt, diese scheinbar selbstverständliche Tatsache zu widerlegen. Geradezu ostentativ wird auf einer Fotografie, die er in seinem Berliner Atelier aufgenommen hat, das Beweismittel vor die Kamera gehalten: eine bizarr geformte, in sich verschlungene Wurzel: Der Großbuchstabe R. Immer wieder hat Kraut das Vorkommen von Buchstaben in der Natur fotografiert und zudem in einer wunderbaren kleinen Geschichte erzählt, die mit dem Satz beginnt: „Das erste Schriftzeichen wurde in einem Waldstück bei Wingoldsbach im Allgäu von einem Förster gefunden“.14 Im Winter 2012 sandte mir der Künstler die Fotografie einer zufälligen Lichtspiegelung an der Fassade eines Berliner Wohnhauses. Deutlich stand dort das Wort ›viel‹ in Licht geschrieben.

Es scheint, dass der geschärfte Blick des Künstlers für Gesichter und für Buchstaben in der Natur von einem – in seinem Kern zutiefst romantischen – Wunsch oder Tagtraum zeugt, dass uns die Natur in bestimmten Augenblicken anschauen und zu uns sprechen möge. So wie der Kieselstein im Wasser, den Kraut gefilmt hat, ein Stein, auf dem ein Gesicht mit geschlossenen Augen erscheint und der im Wellengang des Wassers unablässig seinen Schattenmund zu einem langen, unhörbaren, ebenso anrührenden wie unheimlichen Monolog bewegt: Speaking Stone, 2013.


V.
Alles, was bisher über Gedanken-Fotografie und über den semantischen Möglichkeitsüberschuss der Zeichnungen und Fotografien gesagt wurde, zeigt sich durch ihre Farbigkeit und Größe potenziert in den Linoldrucken. Wobei sich der biedere Gattungsname ›Linoldruck‹ nur der schlichten Tatsache verdankt, dass diese Arbeiten eben mithilfe von Linoleumplatten abgedruckt werden. Mit der traditionellen Technik und Ästhetik des Linolschnitts mit ihren gleichmäßigen Farbflächen und klar definierten Linien hat Krauts Neuerfindung nicht viel zu tun. Sie scheinen in den feinen Linien und Binnenstrukturen früher Arbeiten, wie dem 2001 entstandenen Ausderferne, das wie ein Blick aus großer Höhe auf Wolken und Erdoberfläche wirkt, allenfalls noch auf. Krauts unikate Linoldrucke, die mit verschiedensten Pigmenten arbeiten, haben bald mehr mit Malerei als mit Grafik zu tun. Die Ersetzung des Bildträgers Papier durch Leinwand, der 2012 erfolgte, bestätigt diese Gattungsüberschreitung noch.
Das Grundschema der meisten dieser Drucke ist die Landschaft, die zweifellos prägende Erfahrung für einen Künstler, der stadtfern auf einem Bauernhof im Allgäu aufgewachsen ist. Wasser, Erde, Berge, Wald und Himmel sind die Grundzonen dieser Werke, wenn auch eine zweifelsfreie Zuordnung selten möglich ist und sie immer wieder ihre natürlichen Plätze vertauschen. Es ist diese landschaftliche Matrix, aus der die Bilder ihre Offenheit beziehen. Der alte, kunsthistorisch besetzte Begriff der Weltlandschaft drängt sich beim Betrachten immer wieder auf. Ungeheure Panoramen breiten sich auf den großformatigen Blättern aus. Vor dem Blick des Betrachters öffnen sich zuweilen immense Tiefenräume: ferne Wälder und Berge, zerklüftete, zum Teil von Ruinen durchsetzte Hochebenen, offener Himmel. Bis ins Kosmische können sich diese Blätter weiten: Ist dort die gleißende Milchstraße zu sehen, der sternübersäte Nachthimmel, der gekrümmte Horizont eines Planeten, aus großer Höhe gesehen? Halluzinatorisch sind diese Blätter durch den semantischen Überschuss der amorphen Formen, die einen unabschließbaren Prozess der Semiose, der Zeichenbildung im Moment der Betrachtung, eröffnen. Der Nahblick auf ein Detail aus dem
Blatt Vogelbach lässt weiße miasmatische Dämpfe erkennen, aus denen vor dem delirierenden Auge monströse Figuren und Gesichter, Fratzen und Masken aufsteigen und wieder verschwinden. (Die Wichtigkeit des Blattes wird dadurch unterstrichen, dass es wie der Gracchus im Februar von der Graphischen Sammlung München erworben wurde.)

Idyllen sind Krauts Landschaften kaum. Formbildung und Formzersetzung sind darin eines. Katastrophisches deutet auf vielen sich an. Oft sind die Blätter übersät mit Farbpartikeln: Feuerfunken, Ascheregen, Irrlichter, Nachtfalter, Sternbilder? Nächtlich sind die meisten dieser Arbeiten dunkel, ja verdüstert. Treffend heißt eine Arbeit auf Leinwand von 2012 Tagsüber Nacht. In der verwüsteten Landschaft von Dreiundzwanzig mit rauchenden Überresten in der Ferne scheinen rechts zwei Figuren (wie Dante und Vergil im Inferno der Göttlichen Komödie) als Zeugen einer verheerenden Katastrophe durch das Bild zu wandern. (Tritt man näher heran, sind es einfach zwei weiße Flecken). Geradezu schockhaft, wie sich an der Grenze einer milchig gelb-weißen Zone und dem schwarzen Himmel des ausnahmsweise vertikalen Bildfeldes von St John’s Wort II eine Figur andeutet. Ein Gerippe? Oder Kronos, der Gott der Zeit, mit wehendem blauem Mantel?

(Wie mir der Künstler mitteilte, handelt es sich um ein fernes Frank Henderson-Zitat, einen dicht am Hals eines Reiters sitzenden blauen Vogel.)

Krauts Linoldrucke überlassen dem Material, der Materie selbst das Kommando im bildgebenden Verfahren des Linoldrucks. Der Eigenwille von Pigmenten und Linoleum, von Papier, Leinwand und Druckwalze bringt Strukturen hervor, die genau an der Grenze zwischen Formlosigkeit und Form stehen und daher die Vorstellungskraft befeuern. In manchen Blättern scheinen große Menschenmassen in wildem Treiben zu sehen zu sein: schwarze Messen, Volksaufstände, Kriegsgetümmel, Dantesche Höllenkreise? In den Vier Gärten II schweben, so möchte man meinen, ätherische Wesen, geflügelte gar, in jenseitigen Gefilden auf- und nieder, steigen auf Treppenstufen in unerreichbare Räume. Immer wieder schlägt die düstere Anmutung der Arbeiten um in eine maßlose Schönheit, wie sie etwa das goldfunkelnde Blatt Montgolfière mit seinen exzessiv strahlenden Sternen zwischen schwarzen Baumstämmen in finsterer Nacht aufweist.

Man kann über die Arbeiten von Alexander Johannes Kraut nicht angemessen vom Standpunkt des Wissens und der Wirklichkeit aus schreiben. Der semantische Möglichkeitsüberschuss, den die Bilder in sich tragen, lässt sich mit den herkömmlichen Konzepten von Künstlerintention und Ikonografie nicht fassen. Diese Kunstwerke überschwemmen das Auge mit einem Übermaß an visuellen Details, die im Akt der Betrachtung einen überaus komplexen, sich überstürzenden Prozeß von Zeichenerzeugung, -ersetzung und -zerfall aktivieren. Sie entfalten Kräfte eines vorsubjektiven Spiels, wie sie zuletzt der Philosoph Christoph Menke so treffend beschrieben hat: Kräfte sind (im Unterschied zum sozial kontrollierten Vermögen oder Können des Künstlers) „formierend, also formlos. Kräfte bilden Formen und sie bilden jede Form, die sie gebildet haben, wieder um. […] Im Spiel der Kräfte sind wir vor- und übersubjektiv – Agenten, die keine Subjekte sind; aktiv, ohne Selbstbewusstsein; erfinderisch, ohne Zweck“ (15). Dieses Spiel der bildnerischen Kräfte erzeugt den semantischen Überschuss des Sichtbaren in Krauts Werken, diese exuberante Überflutung mit Imaginationen, die man mit Nietzsche als Rausch, mit Bataille als Exzess und Verschwendung oder, mit William Blake, einfach als Schönheit bezeichnen kann: „exuberance is beauty“.16




1 William Shakespeare, Hamlet, 3. Akt, Zweite Szene [Übersetzung: August Wilhelm von Schlegel].
2 Hier zitiert nach: Eva Schürmann, Sehen als Praxis. Ethisch-ästhetische Studien zum Verhältnis von Sicht und Einsicht, Frankfurt a.M. 2008, S. 235.
3 Ebd.
4 Ebd., S. 236.
5 A. J. Kraut, Zeichnungsnotizen Nr. 9 (unpubliziertes Manuskript).
6 Die Tatsache, dass die Zeichnungen im Henderson Ledger Book auf verschiedene Hände hinweisen und die Zuschreibung einzelner Blätter an Henderson nicht immer zweifelsfrei möglich ist, kann hier vernachlässigt werden.
7  Der englische Maler und Theoretiker Alexander Cozens (1717–1786) hatte in einem Buch A New Method of Assisting the Invention in Drawing Original Compositions of Landscape von 1785/86 ein zeichnerisches Verfahren entwickelt, bei dem amorphe Flecken, so genannte blots, dazu dienten, auf assoziative Weise Landschaftsformationen hervorzubringen.
8 Alexander Johannes Kraut, E-Mail an den Verfasser, 16.05.2013
9 Alexander Johannes Kraut, E-Mail an den Verfasser, 20.12.2010.
10 Der Arbeitsweise von Alexander Johannes Kraut zumindest etwas näher kommt der Satz von André Breton: „Die seit Ende des 19. Jahrhunderts aufgetauchte écriture automatique ist tatsächlich Gedankenphotographie.“ (Zitiert nach: Bernd Stiegler, Bilder der Photographie. Ein Album photographischer Metaphern, Frankfurt a.M. 2006, S. 81).
11 Den Ausdruck Gesichtlichkeit entleihe ich aus: Gilles Deleuze/Félix Guattari, Das Jahr Null – Gesichtlichkeit, in: Bildlichkeit. Internationale Beiträge zur Poetik. Herausgegeben von Volker Bohn, Frankfurt a.M. 1990, S. 430–467, ohne freilich die Meinung der Autoren zu teilen, das Phänomen der Gesichtlichkeit sei erst mit dem Christentum möglich geworden (ebd., S. 444).
12 Vgl. Peter Geimer, Bilder aus Versehen. Eine Geschichte fotografischer Erscheinungen, Hamburg 2010.
13 Sigmund Freud, Die Traumdeutung, Studienausgabe, Bd. II, Frankfurt a.M. 2000, S. 281.
14 Alexander Johannes Kraut, Das erste Schriftzeichen (unveröffentlichtes Manuskript, 2010).
15 Christoph Menke, Die Kraft der Kunst, Berlin 2013, S. 13.
16 Hier zitiert nach Menke (Anm. 10), S. 50.