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Franz Joseph van der Grinten
Vorwort zum Katalog Zeichnungen,
Staatliche Akademie der Bildenden Künste Stuttgart, Stuttgart 1994


Zeichnen als die unmittelbarste aller sichtbar verbleibenden Artikulationen hat sich der abendländischen Kultur derart erst spät als eine allgemeine Ausdrucksmöglichkeit eröffnet. Abgesehen von wenigen Persönlichkeiten in der Geschichte ihrer Bildkunst, die sich souverän in spontaner Entäußerung über die hochentwickelten und damit festgelegten Regeln hinwegsetzten, findet man erst in unserer Zeit zu der Freiheit zurück, die am Anfang des Darstellens vor aller Zeit sich ins ernste Spiel der ersten Welt- und Selbsterkenntnis brachte, unreglementiert, augenblicksgeboren, sich impulsiv den Weg ins Sein erzwingend. Zeichnen als sichtbare Spur von Nachdenklichkeit, Betroffenheit, Empfindung, nicht ausgeformt zu Poesie, nicht vorbedacht als ein Feld der Ordnung und der Deskription, nicht eingebunden in die Starre von Endgültigkeit. Dem ganz Persönlichen gilt der Respekt, aber dieses ist ja zugleich notwendigerweise das ganz Allgemeine, wenn es gültig und krafthaltig genug ist, sich loszulösen und zu leben, Leben auszustrahlen unabhängig vom Anlaß der Entstehung und von der Bindung an den, durch den es entstand. Die Unmittelbarkeit des oft kaum andeutend sichtbar Gewordenen, die Vagheit, das Unabgeschlossene, auf einem Weg zu sein, dem sich das Ziel eher verbirgt, Entgrenzung ins Leere, all das ist, indem es sich derart bildnerisch niederschlägt, ein Teil der gegenwärtigen künstlerischen Kultur geworden, dem auch die äußere Respektierung nicht mehr vorenthalten wird. Ein allgemeines Vermächtnis einiger der großen Zeichner unseres Jahrhunderts, deren Spuren denn auch in dem, was sich in Anderen fortsetzt, sichtbar zu bleiben scheinen. Eine Freiheitsmöglichkeit für alle, die ihr gewachsen sind, kein Freibrief für mangelnden Ernst, kein Surrogat für Beherrschung. Wenn es denn nur die wenigen frei übers Blatt geführten Striche sind, einsetzend und schwindend oft wie ein Hauch, so muß dieser der Hauch des Geistes sein und die Linie, die vielleicht nur eben sichtbare, schwanger von dem Leben, das sich aus ihr entbergen soll. Um Grenzen zu durchstoßen, bedarf es der Dehnung des Körpers; nichts geschieht ohne die Kraft, die Energie ist, die Kraft denn auch, die allen Zwang entmachtet, die Kraft zur Freiheit. Alles, was zu leicht ist, wird verwehen.

Mit den Zeichnenden haben auch die Betrachter von Zeichnungen, ihre eigentlichen Adressaten, gelernt. Sie erwarten nicht mehr die Abgeschlossenheit des ästhetisch Vollendeten. Sie lassen sich ein und vertiefen sich, buchstäblich, indem sie die Leere des Blattes durchdringen und als eine schwingend erfüllte erkennen. Partnerschaft im Geiste, eine vertraute aus Begegnungserfahrung; das Stichwort ruft den Satz auf, will sagen, die Linie den Körper und seine gestisch- physiognomische Präsenz, die Fläche den Raum, das Hell-Dunkel die Atmosphäre. Definitives ergäbe nur den Weg zurück, den allein zu gehenden. So stattdessen sind beide dem Ziel zugewandt, beide erwartungsvoll, beide geöffnet. Innere Widerklänge, Vibrationen aus dem Berührtsein vom eigenen Echo-Impuls. Etwas enthüllt sich und bleibt doch ganz geheimnisvoll, und schweifend konzentriert sich der Geist und sinnend erkennt er. Erkennen aber ist wiedererkennen, es ist er selbst, der sich ihm zu erkennen gibt.

Alexander Johannes Kraut ist, unbeschadet seiner Ausbildung zum Holzbildhauer, vor allem Zeichner, er ist es in der unabdingbaren inneren Selbstverständlichkeit, die beschrieben wurde. Alles Beschwerende ist abgetan; das, was entsteht, tritt unmittelbar in die Welt ein. Radierungen und Linolschnitte geben diesem zeichnerischen Impuls auch in der Druckgraphik Raum, ohne daß der Impuls sich an die Verlockungen der Verfahrensweisen verlöre. Die Radierungen vielmehr sind in fast heftiger Unmittelbarkeit mit der kalten Nadel in die Platte gekratzt, und die samtig schattenden Linien finden sich begleitet von der flächig räumlich-körperlichen Ätzstruktur malerisch aufgetragener Säuren. Die Linolschnitte, von oft großem Format, zeigen schmale helle Spuren in die schwarze Leere oder Fülle der Fläche geritzt, eher Zeichen im Raum, schwebende, unverbunden. Hier mag denn die Rückknüpfung an den Ursprung am engsten sein, den allgemeinen des Anfangs aller Kunst in den Ritzungen in Stein, Bein und Wand, als selbst das Gerät noch Stein war, und den persönlichen der bäuerlichen Herkunft, eines Erlebnisraums, in dem die Gemeinsamkeit aller Kreatur dem jugendlich empfänglichen Menschen die Vielfalt des Lebendigen auch in den Spuren nahebringt, die es hinterließ. Spuren, in die man sich sinnend vertieft, die man deutet, die man erzählen läßt, was aus einem selbst zur Erzählung drängt. Ein tief nachdenkliches Zeichnen, nicht auf ein flaches Ziel fixiert. Das Zeichnen eines, der, indem er über die Welt nachdenkt, sich selbst zu ergründen sucht und umgekehrt. Wie ja Welt, das sei immer wieder gesagt, die Befindlichkeit des Einzelnen in seiner Zeit und seinem Umraum ist, eine ganz persönliche am inneren Ort ihrer Entstehung und doch eine ganz allgemeine aus der Befähigung, sie zu erfassen und reflektierend zu entäußern. Der Strich ist leicht und schwer, zart ohne Verzärtelung, fest ohne Gewaltsamkeit; er erzeugt Vereinzelung und Fülle, Lockerheit und Dichte, jeweils ist es der Impuls zur einzelnen Zeichnung, der ihr, mehr iterativ als in einem einzigen Durchgang, den Charakter gibt. Anfügungen, Wegnahmen, schraffierte Dunkelheit durchkreuzt von der hellen Spur des Radiergummis. Schwingung und Starre, Eines hangend, ein Anderes im Aufwuchs, manches aus Wechselseitigkeit zu Annäherung unterwegs. Landschaft, Wachstum, Bau und Lebensform, die Einheit. Eigentlich auch im Sparsamsten immer ein Ganzes. Siderische Kräfte, tellurische Kräfte, das Fließen von Wasser und Luft, das Strömen von Energie, der Wachstumsdruck, organhafte Motorik. Der Mensch ist inmitten der Natur, in der Landschaft, die sich zu Bergen aufgeworfen hat, und im Erdreich, das sich furcht, in die das Wachsende aufstrebt und die das frei Lebende durchquert. Er ist den Bäumen konfrontiert wie den Steinen, dem, was im Wachsen vor seinem Blick verhält, und dem, was durch Korrosion und Abschlag auf dem Weg ist, sich zu vermindern, dem, was aus eigener Kraft sich errichtet, und dem, was als Skulptur ihm seine Form verdankt, eine zu verantwortende. Er ist nicht isoliert, schweigend ist er eindringlich geöffnet, er greift und schreitet aus, möchte fassen, sieht im Tierschicksal das eigene Sein erschlossen, findet seinen Körper zwischen Bäumen wie einen Stamm, die Hand im Zweigicht wie Geäst. Alles, was wird, wird Form. Er nimmt es wahr mit allen Sinnen, er hört wachsen. Das Wachsende wahrnehmend, wächst er selbst. Es ist ein Ausgesetztsein an Alles. Was sich bewegt, bewegt sich durch ihn hindurch. Es ist der geheimnisvolle Mensch, alles Denkbaren inne und doch sich selbst ein Rätsel, wie die Welt es für ihn bleibt, die er, um sich blickend, doch als die seinige erkennt.

Eine ernste Stille ist es, die in den Zeichnungen von Alexander Johannes Kraut atmet. Wo sie zur Einfachheit finden, fassen sie die Vielfalt in eins. Es ist die einer komplexen Welt in einer knappen Summe. Und selbst in spröder Verhaltenheit offenbaren seine Blätter zeichnerischen Reichtum. Der Blick nach außen ist der Blick nach innen, eine Kongruenz. Im Zeichnen gibt die Hand, was er an sich zog, heraus.



Vorwort, Franz Joseph van der Grinten, in: Alexander Johannes Kraut. Zeichnungen. Staatliche Akademie der Bildenden Künste Stuttgart (Hrsg.), Stuttgart 1994